Das Mädchen mit den Zöpfen
„Opa, darf ich ihn streicheln?“ Ein Junge kauert vor dem kleinen Hund mit dem zotteligen Fell.
Der alte Mann auf der Bank hält die Augen geschlossen und genießt die Märzsonne auf seiner Haut. Die kühle Morgenluft riecht noch nach Winter. „Na, das musst du ihn schon selbst fragen ...“
„Ein Hund kann doch nicht sprechen!“, protestiert der Kleine.
Der Mann öffnet die Augen und schaut sich den Knirps an, der dick eingepackt in seinen Anorak mit geröteten Wangen zu ihm aufschaut. „Du zeigst ihm deine offenen Hände und lässt ihn daran schnüffeln. Dann wird er dir zeigen, ob du ihn streicheln darfst.“
Langsam streckt der Kleine seine Hand aus. Erst schnuppert der Hund vorsichtig, dann leckt er sie ab.
„Iii!“ Der Junge springt auf. „Er hat mich abgeleckt!“
„Siehst du, er mag dich.“
„Wie heißt er denn?“
„Stromer. Und du?“
„Ich heiße Lukas.“
„Ich bin der Josef.“
Der Junge hockt sich wieder hin und beginnt über das Fell des Hundes zu streichen. „Bist du oft hier auf dem Bahnhof?“
Der alte Mann lacht. „Früher war ich jeden Tag hier, jetzt nur noch manchmal. Ich habe hier mal gearbeitet. Siehst du? Dort drüben, im alten Stellwerk.“
„Was ist ein Stellwerk?“
„Von dort werden die Weichen für die Züge gestellt, damit sie immer am richtigen Bahnsteig ankommen. Man musste dazu an langen Hebeln ziehen, jetzt machen das Computer.“
„Ich habe auch einen Computer zu Hause. Ich habe mir zwei neue Spiele gewünscht, weil ich die alten Spiele schon alle kann. Aber Mutti sagt, ich muss bis zu meinem Geburtstag warten. Ich finde Warten blöd.“
„Wann hast du denn Geburtstag?“
„Wenn wir von Oma Hanni zurück sind, noch drei mal schlafen.“
„Und wie alt wirst du?“
„Ich werde sechs! Bald komme ich in die Schule!“
Der Mann dreht sein Gesicht wieder der Wärme entgegen. „Ich war ungefähr so alt wie du, als ich das erste Mal hierher auf den Bahnhof kam. Damals fuhren noch Dampflokomotiven mit ihren großen Rädern und dem dicken, zischenden Schornstein. Ich habe meine Freundin Marie zum Zug gebracht.“
Der Junge steht auf und setzt sich mit baumelnden Beinen zu dem Mann auf die Bank. „Ich finde Mädchen doof.“
„Ich fand Mädchen auch mal doof. Marie war anders, fast wie ein Junge. Sie war mit ihrer Mutter und der Großmutter auf einem Handwagen den weiten Weg aus der Tschechei gekommen. Es war kurz nach dem Krieg. Viele Menschen waren aus ihrer Heimat vertrieben worden. Maries Mutter fand hier in der Nähe Arbeit bei einem Bauern, und deshalb blieben sie und durften mit anderen Flüchtlingen im alten Gutshaus schlafen. Marie hatte keine Spielsachen mehr, also habe ich sie mit meinen Holztieren spielen lassen. Die meiste Zeit waren wir aber auf den Feldern und im Wald unterwegs, haben Kirschen geklaut oder Blaubeeren gesammelt. Ich kann mich noch gut an ihr rotes Kleid und ihre langen Zöpfe erinnern. Oft angelten wir Fische, unten am alten Mühlenbach. Dort ist Marie auch der Hund zugelaufen. Er war ängstlich und halb verhungert. Wir haben ihn mit unseren Marmeladenbroten gefüttert. Marie hat ihn Stromer genannt.“
„Ist das da Maries Hund?“
„Nein, Hunde werden leider nicht so alt wie wir Menschen. Marie wollte ihn mitnehmen, als eines Tages der Brief kam. Ihr Vater war aus der Gefangenschaft zurück und wartete irgendwo in Westdeutschland, bei Frankfurt. Er hatte Geld für die Zugfahrkarten mit in den Brief gelegt. Ich habe sie hierher zum Bahnhof begleitet. Ihre Mutter erlaubte ihr nicht, den Hund mitzunehmen, und ich versprach, auf ihn achtzugeben. Marie war sehr, sehr traurig. Zum Abschied gab sie mir einen richtigen Kuss, auf den Mund! Sie würde zurückzukehren, sobald sie groß genug wäre, und mich heiraten. Ich war oft am Bahnhof und habe gewartet. Später habe ich hier sogar angefangen zu arbeiten, damit ich jeden Tag hier sein konnte. Stromer ist für einen Hund recht alt geworden. Ich habe ihn unter der Weide am Bach begraben, dort, wo er Marie zugelaufen war.“
„Und wann ist Marie zurückgekommen?“
„Es waren schwierige Zeiten damals. Irgendwann wurde die Mauer gebaut und es kamen keine Züge aus Westdeutschland mehr hier durch. Ich habe sie leider nicht wiedergesehen.“
„Dann musst du nach ihr suchen! Papa hat gesagt, man kann im Internet alle Leute wiederfinden! Hast du einen Computer?“
„Ja, habe ich, seit Weihnachten! Mein Freund Willi hat mir gezeigt, wie das mit dem Internet funktioniert. Ich habe nach Marie gesucht, nach Maria Lohmeier, und viele verschiedene Menschen gefunden, aber meine Marie war leider nicht dabei. Irgend wann bin ich aber auf die Idee gekommen, nach Stromer zu suchen, und was soll ich sagen: Eine Schriftstellerin schrieb über ihre Kindheitserlebnisse, schrieb über den Hund Stromer und sogar über mich. Ich habe sie also gefunden. Aber Marie hatte geheiratet und hieß jetzt Maria Walther.“
„Hast du bei ihr angerufen?“
„Nein, das habe ich mich nicht getraut.“
„Lukas? Kommst du bitte? Wir müssen bald einsteigen!“
„Gleich, Mutti! - Wieso hast du dich das denn nicht getraut? Meine Mutti telefoniert ständig mit ihren Freundinnen. Das macht ihr gar nichts aus.“
„Ich habe nicht angerufen, weil ... weil ich lieber einen Brief schreiben wollte. Und Marie hat mir geantwortet. Siehst du den Zug dort hinten kommen? Interregio von Frankfurt am Main nach Berlin, mit Halt in Biderstedt um neun Uhr einundzwanzig. Vielleicht habe ich diesmal nicht umsonst gewartet!“
Der Zug rollt langsam in den Bahnhof ein. Zischend öffnen sich die Türen und eine Handvoll Menschen steigt aus. Lukas springt von der Bank und rennt los. Kurz vor der Frau, die gerade ihre langen grauen Zöpfe aus dem Mantelkragen zieht, kommt er schlitternd zum Stehen.
„Bist du Marie? Bist du endlich gekommen, um Josef zu heiraten?“
Ihre Augen glitzern, als sie sich lächelnd zu dem kleinen Jungen hinab beugt.
„Ja. Ja, das bin ich.“